29. August 2019
Nach Schätzungen hat eines von sechs Kindern in Deutschland einen psychisch kranken Elternteil. Nicht selten übernehmen die Töchter und Söhne der oftmals überforderten Eltern die Rolle der Erwachsenen. Gleichzeitig haben sie ein deutlich erhöhtes Risiko, selbst psychisch zu erkranken.
"Unser Workshop-Format unterstützt die Kinder auf mehreren Ebenen", sagt Klaus Henner Spierling, Diplom-Psychologe am Sozialpädiatrischen Zentrum des AGAPLESION DIAKONIEKLINIKUM ROTENBURG: „Es bietet ihnen eine Erklärung für das teilweise für sie nicht verständliche Verhalten ihrer Eltern. Gleichzeitig können sie sich einem erwachsenen Ansprechpartner auf Augenhöhe anvertrauen. Auch der Zugang zu Familien und anderen Kindern in einer ähnlichen Lage ist sehr wichtig.“
Menschen mit ähnlichen Problemen kennenzulernen, stärkt auch das Selbstwertgefühl der Erwachsenen, wie eine teilnehmende Mutter berichtet, die anonym bleiben möchte: "Als die anderen Familien von ihren Problemen erzählt haben, dachte ich: Oh, das sind ja wir, wenn ich 'meine fünf Minuten' habe."
Meine Tochter dachte, ich hätte sie nicht lieb – das war furchtbar
Psychologe Spierling hat das in London entwickelte Projekt vor vier Jahren nach Deutschland geholt: "In unserer Arbeit mit psychisch kranken Eltern ist uns aufgefallen, dass ein Unterstützungsangebot für Kinder fehlte – vor allem im ländlichen Raum", beschreibt er die Hintergründe.
Wie wichtig die gemeinsame Betreuung von Eltern und Kindern ist, spiegelt auch die Aussage der am Projekt teilnehmenden Mutter: "Ich war aufgrund meiner Erkrankung oft müde oder schnell wütend. Erst bei Kidstime habe ich verstanden, dass meine Tochter lange Zeit glaubte, sie wäre schuld an meinem Verhalten. Sie dachte, ich hätte sie nicht lieb – das war furchtbar."
Heute treffen sich bei "Kidstime" bis zu zehn Familien einmal im Monat, unterstützt von einem Team aus Psychologen, Sozialarbeitern, Physiotherapeuten und Krankenpflegern in der Rotenburger Klinik: "Der Begriff Familie ist bei uns sehr weit gefasst, es kommen oft auch aktuelle Partner, die Großeltern oder Familienhelfer mit", erklärt Klaus Henner Spierling, der mit seinen Kolleginnen und Kollegen bei "Kids-time" Elemente aus Multifamilienarbeit, systemischer Therapie und Theaterpädagogik kombiniert.
Zu Beginn jedes Workshop-Treffens sprechen Eltern und Kinder gemeinsam über psychische Krankheiten und deren Auswirkungen auf das Familienleben. Nach Aufwärmübungen verarbeiten die Kinder Situationen ihres Alltags in Form von Sketchen, Märchen oder Theaterstücken, die sie selbst inszenieren. Sie lernen dabei Kontrolle und Selbstwirksamkeit für schwierigen Alltagssituationen – und spielerisch ihre Gefühle auszudrücken. Das Highlight des Workshops für viele Kinder: Alle Familien essen gemeinsam Pizza.
Der Erfolg von "Kidstime" macht Schule: 2016 wurde das Projekt mit dem Niedersächsischen Gesundheitspreis ausgezeichnet. Klaus Henner Spierling ist mit seiner Kollegin Kerstin Stötzel, einer systemischen Kinder- und Jugendtherapeutin, mittlerweile in der ganzen Republik unterwegs und bildet Mitarbeitende bei freien Trägern, Jugendhilfe und Kinderschutzeinrichtungen aus.
"Es ist großartig, dass so auch Familien außerhalb der Metropolen einen niedrigschwelligen Zugang zu Unterstützung erhalten", freut er sich: "Dass wir es geschafft haben, dieses Format von Rotenburg aus ein Stück weit in Deutschland verbreiten zu können, macht schon ein bisschen stolz."